Begegnung mit jüdisch-tschechischen Zeitzeugen der Shoah

  • Zeitzeugen am Gymnasium Nordhorn

„Weil wir Verantwortung haben“ sind Frau Hanna Hnátová, Helga Hosková und Evelina Merová, drei Überlebende der Shoah, zu Besuch in der Grafschaft. Unter anderem haben die drei tschechischen Zeitzeuginnen auch Grafschafter Schulen besucht. Sie waren Gast am Evangelischen Gymnasium, am Gymnasium Nordhorn, am Lise-Meitner-Gymnasium und am Missionsgymnasium St. Antonius Bardel. Sie berichteten den Schülergruppen sehr eindrucksvoll über ihre Erfahrungen und ihr Leid in verschiedenen Konzentrationslagern, Ghettos und Vernichtungslagern und standen im Anschluss für Fragen der Schülerinnen und Schüler zur Verfügung. Der Förderkreis des Gymnasiums Nordhorn e.V. unterstützte den Aufenthalt der Zeitzeugen mit einer Zuwendung von 200 EUR.

 

Frau Evelina Merová

Frau Merová beginnt ihre Ausführungen mit dem Jahr 1930, dem Jahr ihrer Geburt. Ihre Familie sei assimiliert, aber nicht religiös orientiert gewesen. Nach deutscher Besetzung der Tschechoslowakei hätte sich ihr Leben drastisch verändert. Sie sei aus der Schule und dem gesamten öffentlichen Leben ausgeschlossen worden, ja es sei sogar verboten gewesen, Haustiere zu halten. Deshalb hätte sie ihren Kanarienvogel abgeben müssen. Schließlich musste die Familie aus der Wohnung ausziehen und bekam lediglich einen einzigen Raum zugewiesen. Zu Essen hatten sie nicht immer genug. Doch mit der Deportation der Familie nach Theresienstadt im Juli 1942 veränderte sich ihr Leben nochmals drastisch. Im dortigen Ghetto lebte sie, so erzählt die Zeitzeugin, bis zu ihrer Deportation nach Auschwitz im „Heim 28“, in einem Zimmer mit ca. 40 anderen Mädchen. Im Dezember 1943 wurde die Familie nach Auschwitz deportiert und dort zunächst in die sogenannte „Quarantäne“ überführt. Ihr Vater verstarb, sie und ihre Mutter wurden im Juni 1944 zum Arbeitseinsatz „selektiert“ und in das KZ Stutthof überführt. Durch die unmenschlichen Bedingungen im KZ, die schwere körperliche Arbeit, aber auch durch die mangelnde Versorgung mit Nahrung oder Kleidung starben viele der Zwangsarbeiterinnen – auch Evelinas Mutter. Frau Merová berichtet weiter, dass im Januar 1945 die Rote Armee das Lager erreichte und die überlebenden Mädchen und Frauen mit einem Sanitätszug nach Leningrad gelangten. Von einer russischen Familie adoptiert, erlebte Evelina nach Kriegsende auch in Russland Repressionen: trotz ausgezeichneter Noten wurde sie nicht zum Studium ihrer Wahl zugelassen, konnte dann aber doch ein Deutschstudium absolvieren und als Dozentin tätig werden. Erst 1995 sei sie wieder in ihre Heimatstadt Prag umgesiedelt.

 

Frau Hana Hnátová

Frau Hnatová hat für ihren Besuch in der Schule ein sehr altes Buch mitgenommen. Als ihr ein deutsches Wort nicht einfällt, benutzt sie es: ein Wörterbuch Deutsch – Tschechisch. Von ihrem Vater habe sie es einmal geschenkt bekommen, erzählt sie. Sein Name und seine Adresse von damals in Prag stünden noch in seiner Handschrift auf dem ersten Deckblatt des Wörterbuches.

Dann fängt sie an zu erzählen: „Kinder lieben ihre Hunde und Kätzchen. Uns jüdischen Kindern wurden sie weggenommen. Wir durften keine haben.“ Es kam aber noch schlimmer. 1941 begannen die Deportationen der Juden aus Prag. Wer für den nächsten Transport vorgesehen war, erhielt einen Zettel mit seinem Namen und den Tag der Deportation. „Noch heute erschrecke ich, wenn es an der Tür klingelt. Damals hatten wir fürchterliche Angst, wenn es an der Tür klingelte. Es konnte ja der Zettel gebracht werden. Das Wort ´Auschwitz` kannten wir noch nicht, das Wort ´Osten` machte uns Angst.“

Sie, ihre Mutter, Schwester und Cousine wurden nach Theresienstadt deportiert. Vom dem Transport dorthin sind ihr besonders der Gestank und die Enge in Erinnerung geblieben: „Es stank furchtbar. So viele Menschen zusammengepresst. Keine Toilette.“

Im KZ Theresienstadt angekommen, wurden ihnen bereits am Tor von SS-Frauen (offiziell: SS-Gefolge) alles abgenommen, was sie schön fanden. Von dem Aufenthalt im KZ haben sich besonders die unzumutbaren hygienischen Verhältnisse in ihr Gedächtnis eingebrannt. Es gab so viele Wanzen, Flöhe, Läuse. „Wenn ich an Wanzen und Flöhe und Läuse denke, wie jetzt, dann juckt es noch immer wie damals.“

Ihr Vater und Bruder waren noch in Prag. Als sie zum Transport nach Auschwitz ausgesucht wurden, rettete „das schlechte Deutsch meines Bruder sie. Er wollte dem SS-Mann sagen:´Mein Vater ist kriegsbeschädigt. Er sagte aber: ´Mein Vater ist kriegsbeschäftigt.` Das rettete sie vorerst.“

Später wurden sie und ihre Mutter nach Auschwitz überführt. Als der Zug ins KZ einfuhr „sah ich über dem Tor die Schrift ´Arbeit macht frei`. Da habe ich zu meiner Mutter gesagt: ´Das ist eine Fabrik. Da müssen wir arbeiten.“ Im Nachhinein muss ist sagen, dass das furchtbare KZ Theresienstadt noch gut war, verglichen mit Auschwitz.“ Noch heute leidet sie unter Albträumen. „Manchmal schreie ich nachts. Dann sehe ich meinen Vater unter der Dusche. Aber es kommt kein Wasser, sondern (das Gift) Zyklon B.“

Auf die Frage, wie sie all das Grauen und die Grausamkeiten, die man Ihnen angetan hat, ausgehalten habe, antwortet sie: „Meine Mutter hat uns zur Disziplin erzogen. Mein Vater war immer optimistisch. Er hat immer gesagt, das Gute werde doch gewinnen.“ Deshalb dürfe sich nicht wiederholen – egal, um welche Menschengruppe es geht, was sich damals ereignet hat.

 

Frau Helga Hosková-Weissová

Helga Hosková-Weissová, die als Kind in das KZ Theresienstadt deportiert wurde, hatte heimlich einen kleinen Wasserfarbkasten und Zeichenpapier mit in das Lager nehmen können. Von ihrem Vater habe sie nämlich den Auftrag bekommen, zu zeichnen, was sie sieht. Ihre ausdrucksstarken Bilder gehören zu den wenigen Bilddokumenten der unvorstellbaren Alltagswelt von Theresienstadt. Die ersten Zeichnungen, die dort entstanden, sind noch typische Kinderzeichnungen. Man kann aber anhand der Bilder ihre traumatischen Erlebnisse nachvollziehen. Das letzte Bild, das den Schülern gezeigt wurde, war eine Darstellung der Selektion im KZ Auschwitz. Gerade dieser weite Bogen von der ersten Kinderzeichnung bis zu den Erfahrungen in Auschwitz zeigt, wie ihr Leben innerhalb von drei Jahren systematisch zerstört wurde. “Fotos zeigen Fakten, sie können schockieren“, so ein Schüler, „die Bilder gehen tiefer, sie zeigen auch die Wirkung der Grausamkeiten auf den Menschen und in diesem besonderen Fall, wie ein Kind das Erlebte reflektiert.“ Auf die Frage, warum sie überlebt habe, sagt sie: „Vielleicht war es Glück, vielleicht ein Wunder, vielleicht Schicksal." In dieser Aussage wird deutlich, dass sie sich - wie viele Shoah-Überlebende - lange Zeit regelrecht schuldig gefühlt hat, weil sie überlebt hat. Anhand der Bilder wird deutlich, wie sehr die Shoah sie geprägt und ein Leben lang beschäftigt hat. Erst mit der Zeit ist bei ihr das Bewusstsein gewachsen, dass sie die Verantwortung hat, von ihrem Leben zu erzählen, damit sich die Geschichte nicht wiederholt. Die Schülerinnen und Schüler haben bemerkt, wie schmerzvoll die Erinnerung auch nach 70 Jahren noch ist. Umso bewegter und dankbarer sind sie, dass Frau Hosková sie hat teilhaben lassen. Ihre Botschaft, Verantwortung zu übernehmen für die Gestaltung eines friedlichen und menschenwürdigen Miteinanders, ist angekommen.